Stefan Trümpler, Stiftung Blatten, am Herrgottstag 2025
Vom verlorenen und bleibenden Kulturgut von Blatten
Blatten im Lötschental, 28. Mai 2025. Ein Dorf wird durch eine fatale Verkettung von Naturereignissen und klimatischen Veränderungen ausgelöscht. Wie die Gletscher abschmelzen war in den letzten Jahren im Tal eindrücklich zu sehen. Zahlreiche Menschen verlieren ihr früheres Leben, ihr Hab und Gut. Verloren sind auch Zeugen ihrer jahrhundertealten Familiengeschichten, die hier so wichtig sind und die in gesellschaftlichen Traditionen und Bräuchen, am bekanntesten jene im Zusammenhang mit der Fastenzeit oder kirchlichen Feiertagen, Ausdruck finden.
Das Leben einer solchen Berggemeinschaft prägt auch eine materielle Kultur, vom Grössten, der Landschaft, bis in kleinste Einzelheiten des persönlichen Alltags. Der Verlust des alten Blatten ist auch ein zutiefst erschreckender Verlust an Kulturgut.
Ein verlorenes Juwel
Blatten war ein Juwel historischer alpiner Bau- und Sachkultur. Das Inventarbuch «Blatten. Was alte Menschen, alte Häuser und alte Schriften erzählen», das die zwei Heimatkundigen Hans und Leo Kalbermatten sorgfältig und liebevoll zusammengetragenen hatten (1997), liest man in den Stunden nach dem Ereignis wie in einem Albtraum. Allein die Zahlen sind verstörend: Das betroffene Dorf und der ihm talabwärts vorgelegene Weiler Ried zählten über 180 Gebäude aus dem Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert. Etwa 40 waren stattliche Wohnhäuser. Mehrere Bauwerke stammten aus dem 16. Jahrhundert. Zusammen mit 140 Speichern, Stadeln, Ställen, Scheunen und anderen Wirtschaftsgebäuden, wie einem Backofenhaus und einem Sägewerk, standen sie markant auf einem durch Felsrippen und Zwischenfurchen geformten Gelände, begleitet von der Lonza. In der Mitte die hochaufragende neue Kirche von 1985. Jedem Teil der von der Topografie gegliederten und geprägten Siedlung «uf dr Blattun» gaben die Menschen seit Jahrhunderten ihre heute so berührenden Namen, von den Dorfteilen bis zu den kleinsten Winkeln. Giesntell, Schluächt, Schpilfluä, Bodmä, Saaguflüe... In den Häusern befinden sich verzierte Giltsteinöfen, alte Schränke, Truhen und historische Wohneinrichtungen. Darin versorgt unzählige Gegenstände des Alltags und der Arbeit, aber auch Zeugen des geistigen, religiösen und kulturellen Lebens, wie die traditionellen Kleidungen, sowie der schriftlichen und bildlichen Geschichte, von Familienalben bis zu wertvollen historischen Archiven, Bibliotheken, Sammlungen. Sogar ein originelles, den «Abfällen» unserer Sachkultur gewidmetes Museum in Ried ist nicht mehr.
Neben den unzähligen und zurzeit zweifellos wichtigeren Fragen stellen sich nun auch jene zum Kulturgut von Blatten. Sie werden unsere Stiftung besonders beschäftigen.
Der Wert des Erhaltenen
Wenn mit dem Dorf Blatten und mit Ried das Zentrum getroffen wurde, blieben mit Eisten und Weissenried zwei weitere ebenfalls historisch sehr bedeutende Wohnsiedlungen der Gemeinde verschont. Weiter hinten im Tal liegen die anmutige Gebäudegruppe und die Überreste des verlassenen Dorfes um die schöne Kapelle von Kühmatt, sowie, in die gegenüberliegenden Weiden eingebettet, die Stallsiedlung Vorsaas. Die fünf Alpen des Gemeindegebiets, Weritzen, Telli, Fafler, Gletscher und Guggialp gehören wie einst Blatten auch aufgrund des Baubestands ihrer Siedlungen oder Stafel zum Perimeter des UNESCO-Welterbe des Jungfrau-Aletschgebiets. Und die vielen in der herrlichen Kulturlandschaft verstreuten Scheunen und Ställe, Wege, Steinmauern und Suonen...
Welchen Stellenwert werden sie – aber wohl nicht nur sie, sondern auch entsprechende Werte im ganzen Tal – in Zukunft erhalten? Werden sie noch bewusster geschätzt, belebt, gepflegt, inventarisiert und dokumentiert werden? Blatten war mit Eisten und Weissenried als Ortsbild von nationaler Bedeutung eingestuft (Bundesamt für Kultur, Inventar ISOS). Vom umfangreichen Gemeindegebiet von Blatten findet sich nur die Kapelle von Kühmatt, zusammen mit auffallend und bedenklich wenigen Objekten im übrigen Lötschental, als einziges Bauwerk auf der Liste geschützter Bauten des Kantons Wallis!
Modellhaft dokumentiert
Nur ein Gebäude von Blatten ist mit seiner Scheune und dem Schweinestall gebührend und modellhaft erforscht und untersucht worden: Das Blattner Wohnhaus von 1586, das der neuen Kirche weichen musste und im Freilichtmuseum Ballenberg ein zweites Leben erhielt. Mit wenigen Kleinbauten, die an andere Stellen im Tal versetzt wurden, dürfte es zum einzigen erhaltenen historischen Gebäude des Hauptdorfes Blatten geworden sein (Dokumentation im Anhang). Und zum Glück werden zahlreiche andere materielle Zeugen der Geschichte der Blattnerinnen und Blattner im so verdienstvollen Lötschentaler Museum in Kippel aufbewahrt.
Was wird das alte Blatten für das neue bedeuten?
Wie wird das verlorene Kulturgut von Blatten in Erinnerung bleiben und gewürdigt werden? Wie wird das Erhaltene weiter betreut? Was kann gerettet, neu angefertigt, geschneidert oder herausgegeben werden? Welche strukturbildenden Elemente des alten Dorfkerns von Blatten könnten in einer neuen, modernen Dorfgemeinschaft weiterleben? Welche Rolle wird das Vergangene für die jungen Generationen spielen? Wie wird es, mit der gesamten Tragweite des Ereignisses, in die Qualitäten und das touristische Erlebnis des unvermindert besuchenswerten Lötschentals intergiert werden? Was wird das alte Blatten für das neue bedeuten?